Wie Kinder Bücher lesen

„Jedes Kind muss lesen lernen!“ – diese Forderung der bekannten deutschen Kinderbuchautorin Kirsten Boie fußt nicht zuletzt auf den erschreckenden Ergebnissen der IGLU-Studie von 2016, derer zufolge beinahe ein Fünftel der deutschen Grundschulabgänger das sinnentnehmende Lesen eben nicht beherrscht. Über der Tatsache, dass die Lesefähigkeit natürlich unverzichtbares Rüstzeug für ein selbstbestimmtes, informiertes, weltoffenes Erwachsenendasein in unserer komplexen modernen Gesellschaft ist, darf jedoch auch nicht vergessen gehen: Lesen – und insbesondere das Lesen von Büchern – ist ein Abenteuer! Eine riesige Bereicherung für die Kindheit; die Tür in neue Denk- und Vorstellungswelten; ein Freizeitvergnügen, in dem man sich lustvoll verlieren kann. Auch im Zeitalter der digitalen Medien ist das Lesen kein Hobby von gestern.
Wahren Bücherkindern braucht man das kaum zu sagen – aber auch für sie (und ihre Familien) mag der Blick von außen auf die Thematik ausgesprochen interessant sein. Denn selbst wenn die Lesesozialisation im eigenen Haushalt geklappt hat, erfordern andere Zeiten und andere Umfelde mitunter andere Ansätze – und so ist dieses ebenso kurzweilige wie augenöffnende Kompendium tatsächlich mehr als ein Wegweiser: nämlich ein spannender Einblick in die gesamte Bandbreite der Lebens- und Lesewirklichkeit der heranwachsenden Generation, der Eltern wie Lehrer, aber auch alle anderen Literaturvermittlern nicht nur mit Tipps, sondern vor allem mit viel Verständnis und Erkenntnis wappnet, damit das Lesenlernen vom Muss wieder zum Genuss wird.

Wie Kinder Bücher lesen

Ratgeber und Wegweiser
von Nicola Bardola, Stefan Hauck, Mladen Jandrlic, Alexandra Rak, Christoph Schäfer, Ralf Scheikart
illustriert von Regina Kehn
Carlsen 2020

Lesen und Verstehen sind Kulturtechniken, die zunehmend wichtiger werden, und es wird immer klarer, dass der reine Leseerwerb dafür nicht ausreicht. Doch wie gelingt es, Kinder ab acht Jahren für Geschichten und Sachtexte zu begeistern, die über kurze Smartphone-Texte hinaus gehen? Für Texte, die Jungs und Mädchen zum vertieften Lesen von Büchern verlocken?

Das Autorenteam des “Senter Kreises”, bestehend aus sechs Kinderbuch-ExpertInnen, zeigt, wie die aktuellen Alltagssituationen und die veränderte Mediennutzung von Acht- bis Zwölfjährigen aussieht und gibt Antworten und kreative Ideen für alle, denen die Entwicklung ihrer Kinder am Herzen liegen.

In achtzehn Kapiteln widmen sich sechs namhafte Kinderbuchexperten und -expertinnen einer bemerkenswerten Bandbreite von Aspekten rund um das Lesen und analysieren dafür zunächst einmal die Lebenssituation der gegenwärtig Acht- bis Zwölfjährigen: Wie nutzen sie ihre Freizeit? Ist es tatsächlich so, dass für das Lesen schlicht weder Muße noch Freiraum bleiben? Ersetzt womöglich das Smartphone bald die gedruckte Buchseite? Keineswegs, denn das Lesen am Bildschirm ist tatsächlich ein ganz anderes – und es verändert die Lesegewohnheiten insgesamt. Hierin ruht einerseits die Gefahr, dass das oberflächliche Überfliegen zum neuen Standardmodus wird, dass Kinder Texte eher scannen, als darin abzutauchen. Zugleich aber bieten die digitalen Möglichkeiten unserer Zeit auch Chancen, ganz neue Heranführungsweisen an das Lesen zu finden.

Von Covern, Helden, Comics und Hörbüchern

Was interessiert Kinder wirklich, wie muss ein Buch sein, damit ein Kind danach greift? Es geht um ansprechende Cover, die Kunst der Gestaltung im Innern – etwa das Verhältnis von Text zu Bild – und natürlich die Themenwahl. Weshalb zu perfekte Helden ebenso langweilig sind wie manch pädagogisch wertvolles, vollkommen durchgegendertes Buch, in dem sämtliche Rollenklischees geradezu zwanghaft auf den Kopf gestellt werden, dürfte so manch Erwachsenen verblüffen. Ebenso das feurige Plädoyer für den Comic, der keineswegs als minderwertiger Schund für Lesemuffel abzutun ist, sondern tatsächlich ein vielschichtiges Erlebnis und somit grandioser Einstieg in die Welt der „richtigen“ Kinderbücher sein kann. Auch ein gutes Hörbuch ist viel mehr als passive Berieselung, sondern regt die Fantasie an und kann das präsentierte Buch gar um ganz neue Erfahrungsebenen bereichern.

Die Autoren beschäftigen sich mit Sachbüchern und Serien, mit der Lesekrise, die für gewöhnlich fast jeden Jugendlichen ergreift, jedoch keineswegs zu Verzweiflung auf Eltern- und Lehrerseite führen sollte – denn im Idealfall ist die Basis zu diesem Zeitpunkt längst gelegt, und mit dem richtigen Buchangebot können literarische Helden den Heranwachsenden auch in dieser Zeit viel Halt geben. Ebendas müssen sie lediglich entdecken. Darum sind auch die Lesetipps am Ende jedes Kapitels wertvolles Gut für alle, die ihren Kids und Teenagern sanfte Orientierung geben wollen. Denn eines ist auch klar: Druck und Zwang führen zu einer Abwehrhaltung, und auch die Pflichtlektüre im Lehrplan sollte häufig überdacht werden.

Von Klassikern und trügerischen Bestsellerlisten

Klassiker sind dennoch alles andere als out – auch ihnen ist ein sehr erhellendes Kapitel gewidmet, ebenso wie den mitunter trügerischen Bestsellerlisten, die nicht immer Maß der Dinge bei der Buchauswahl sein sollten. Gute Expertenempfehlungen gibt es im Netz und im Feuilleton jedoch zuhauf, und Hinweise auf ein paar kleine, feine Preise und Rankings, die man im Blick haben sollte, finden sich hier. Zum Abschluss darf und soll natürlich auch eine besondere Herausforderung der Globalisierung und damit verbundenen Migration nicht vergessen werden: Nicht nur Diversität, sondern auch Multikulturalität prägt unseren Alltag, und gerade Kinder aus zweisprachigen, womöglich noch bildungsfernen Familien haben es beim Lesenlernen schwerer. Doch Sprachen können im Rahmen von Geschichten eine besondere Faszination entwickeln, und zweisprachige Bücher etwa eröffnen tatsächlich ganz neue Wege, Kinder aus den verschiedensten Kulturkreisen einzufangen und ihnen wunderbare interkulturelle Begegnungen zu ermöglichen.

Ein Fazit

Als Fazit des Buches mag vielleicht stehen, dass uns Erwachsenen eine große Verantwortung zukommt, die bereits im Vorlesealter beginnt – und zwar mit dem Vorlesen und Vorleben. Unsere Kinder sollten uns lesen sehen, um den Bann und Zauber, den Bücher ausüben können, buchstäblich zu begreifen. Es ist wichtig, dass Kinder zu Lesern werden, denn – um die Publizistin Susanne Gaschke zu zitieren, die es pointiert auf den Punkt bringt – „jeder halbwegs interessierte Affe kann ein Smartphone bedienen. Aber kein Affe kann lesen. Schon in naher Zukunft werden wir einerseits jene Menschen haben, die sich noch konzentrieren, die urteilen, sich einfühlen und selbstständig denken – und andererseits die, die sich mit Piktogrammen und Spracherkennungssoftware durch ihren gänzlich anti-intellektuellen Alltag schlagen.“ Aber, und das ist das Schönste daran: Wir prügeln Kindern kein notwendiges Übel ein, sondern schenken ihnen eine wertvolle, lustvolle, bereichernde zusätzliche Lebensdimension. Oder mehrere. Denn wer liest, hat mehrere Leben. Das sagte schon die Verlegerin Heidi Oetinger. Na klar, die mit Pippi Langstrumpf. Übrigens bis heute ein toller Lesetipp.

Wie sehr ein Buch wie dieser Wegweiser als Orientierung gefehlt hat, merkt man erst bei der Lektüre – und auch, wie viel Spaß das Lesen machen kann, falls man es selbst vergessen haben sollte. Denn schon dieses Sachbuch macht Lust darauf, endlich wieder in fantastische Welten abzutauchen, nicht zuletzt dank der grandiosen Illustrationen von Regina Kehn. Tun wir es. Und nehmen wir unsere Kinder mit! Viel Spaß beim Lesen!

Fabienne Pfeiffer aus der Bilderbuchredaktion

Fabienne Pfeiffer hat ihre Liebe zur Kinder- und Jugendliteratur zum Beruf gemacht und übersetzt nach ihrem Magisterstudium seit 2016 aus dem Englischen, querbeet vom Bilderbuch über Kinder- und Jugend(sach)bücher bis hin zu All-Age-Titeln. Wenn sie sich in ihrer Freizeit nicht ebenfalls korrigierend, rezensierend oder schlicht schmökernd mit Büchern beschäftigt, findet man sie am ehesten mit Hund in der Natur.
Beiträge von Fabienne

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